Gedanken über Graduierungen
Von Walther von Krenner
Auch wenn Menschen offenbar fassbare Ergebnisse benötigen, um ihren Fortschritt und die Ereignisse ihres Lebens einzuordnen, so scheint dies doch um der falschen Gründe willen zu geschehen. Graduierungen und die damit einhergehenden Titel werden leicht der Politik und deren Manipulation unterworfen. Andere wichtige Meilensteine des Lebens, wie Hochzeiten, Schulabschlüsse, Beerdigungen, usw., sind auch wichtig, doch werden sie nicht auf eine Weise zur Schau gestellt und ausgenutzt wie die Graduierung oder ein Titel in den Kampfkünsten. Ein Grad oder Gurt ist einfach das Symbol, das man etwas geschafft hat, doch nicht notwendigerweise, dass man besonders fähig ist. Ein Schüler, der nur deshalb trainiert, um den Schwarzen Gürtel zu bekommen, glaubt auch, dass der Gürtel wichtiger ist, als die zu erlernenden Fähigkeiten selbst. Der Wunsch zu lernen sollte die treibende Kraft sein, die zum Erlernen einer Kunst antreibt, nicht der Wunsch nach einem Symbol oder einem Gurt. Ein Schüler sollte immer daran denken, dass der Schwarzgurt (Shodan) nur der Beginn eines Prozesses ist, nicht sein Ende. Eines der größten Missverständnisse über die Kampfkünste ist der Glaube, dass ein Schwarzgurt ein Experte ist. Für Laien mag dies auch durchaus verzeihlich sein, doch auch viele Schüler erkennen dies nicht. Allzu oft führen sich frisch gebackene Schwarzgurte auf als seien sie plötzlich Meister, bis sie es sogar selber glauben, und meinen sie könnten ein Dojo eröffnen und unterrichten. Sie werden aufhören zu wachsen und sowohl technisch, als auch geistig Anfänger bleiben. Ich glaube, erst ab Godan (5. Dan) – oder der äquivalenten Trainingszeit – kann man sich als Meister oder Lehrer qualifizieren. Ich betone hier die „äquivalente Trainingszeit“, weil in manchen Organisationen auch Grade verteilt werden, die absolut nichts mit technischer Fähigkeit zu tun haben. Es ist auch klar, dass eine unfähige Person 25 Jahre lang eine Kunst studieren kann, und trotzdem nichts davon versteht; doch dies ist gewiss genauso selten wie ein Genie, dass nach fünf Jahren des Studiums die Klasse eines Veteranen hat. Die Graduierung ist – weil sie Begierde so vieler ist – in großen Aikido-Organisationen zu einem Kontrollmechanismus ausgewachsen. Das Traurige an dieser Geschichte ist nicht diese Tatsache an sich (auch wenn viele Graduierungen politische Hintergründe haben), sondern dass diese Organisationen sich gegenseitig erniedrigen und eine jede behauptet nur ihre eigenen Grade seien authentisch. Bekanntlich gibt es tiefe politische Gräben in der Aikido-Welt. Die in Japan ansässigen Organisationen haben die Dojos außerhalb Japans fest im Griff. Viele Unzufriedene in Dojos in der ganzen Welt haben die Verbindungen zu japanischen Dojos abgebrochen und gehen in eine unabhängige und unsichere Zukunft. Viele gründen neue Organisationen und das ist ein Problem. Ich bin überzeugt, dass diese Situation dem Wachstum des Aikido nicht zuträglich ist. Wahres Aikido hat eine pure Essenz, welche seine Ursprünge transzendiert. O-Sensei Morihei Ueshiba glaubte, dass diese Essenz universell ist und ein Bestandteil unserer Existenz. Falls wir dem zustimmen, dann müssen wir einsehen, dass Aikido von niemandem besessen oder kontrolliert wird. Es gibt natürlich jene, die dies (wiederum aus politischen Gründen) kritisch sehen. Diese Meinung gestehe ich ihnen zu, genauso wie ich meine Meinung haben kann. Es spielt für mich tatsächlich keine Rolle, was andere Organisationen oder Shihan über mich denken, denn meine Autorität zu unterrichten stammt nicht von ihnen, sondern von meinen Lehrern (O-Sensei, Ueshiba Kisshomaru-Sensei, Tohei Koichi-Sensei, Takahashi Isao-Sensei) und 52 Jahren des Trainings und Studiums der Kunst. Sie kommt nicht von einem Stück Papier oder der Farbe meines Gürtels. Viele, die einen Rang um des Ranges willen erworben haben, führen ein Leben, dass nicht gerade vorbildlich genannt werden kann. Ihre Schüler ignorieren ihre Charakterschwächen oft, da die Lehrer den Rang haben, den sie selbst wiederum anstreben. Ihre Techniken sind ein hübscher Tanz und nicht realistisch. Das ist traurig, weil sie nicht für die Wirklichkeit gewappnet sind. Ja, der Rang bedeutet etwas, wenn er das Zeichen von Fähigkeit ist. In diesem Fall bedeutet nicht der Rang oder die Farbe des Gurtes etwas, sondern die Fähigkeiten, die er repräsentiert. Früher gab es keine Schwarzgurte oder Kyu-Grade; sie wurden von Jigoro Kano für das Judo erfunden, welches als moderner Sport konzipiert ist. Der Rang wurde durch den Sieg in Wettkämpfen erworben, nicht durch Politik. Aikido fehlt dieser „Realitätsfilter“ und darum sollte der Rang im Aikido nicht so wichtig genommen werden oder als Anzeichen für Kompetenz. Wenn eine Person fähig ist, dann spielt es keine Rolle welchen Gurt sie trägt. Jeder zitiert die Stelle in „Karate-Kid“, dass „der Gurt nur dazu da ist, die Hose zu halten“, nur um im gleichen Atemzug festzustellen, dass sie ein Schwarzgurt sind. Ich wechselte 1961 vom Judo zum Aikido. Ungefähr ein Jahr lang trainierte ich beides, bis ich bemerkte, dass Aikido mein Do war. Doch erinnere ich mich an eine Lektion, die ich im Judo über die Graduierung gelernt hatte. 1958 trainierte ich das erste Mal im Salle Pleyel Studio-Dojo. Ich kannte dort niemanden. Während der ersten Stunde dort wählte ich einen Weißgurt als Trainingspartner, denn ich wollte es mir in der ersten Stunde nicht zu schwer machen. Nachdem wir uns verbeugt hatten und ich versuchte ihn zu fassen, flog ich in die Luft und schlug auf die Tatami. Das hätte nicht passieren dürfen, denn ich war immerhin ein Schwarzgurt. Ich stand wieder auf und das gleiche passierte wieder und wieder während der ganzen Stunde. Nach der Stunde glotzte ich den Kerl in der Umkleide mit verletztem Stolz an. Offenbar war er für einen Weißgurt unglaublich gut. Er sah mich an, als sei ich beschränkt und sagte: „Du weißt nicht wer ich bin?“ Ich verneinte. Er lachte, so wie alle anderen im Raum und erklärte mir, dass er den sechsten Dan hielt. Nachdem ich ihn irritiert auf den weißen Gurt hingewiesen hatte, erklärte er mir, dass er diesen mit einem Anzug ausgeliehen hatte, weil sein eigener in der Wäsche war. Dass er nur einen weißen Gurt trug, kümmerte ihn nicht. Das war eine gleichzeitig demütigende (also Demut gebietende), wie lehrreiche Lektion über die Gurtfarbe. Zumindest hatte ich den Top-Mann des Dojos ausgewählt und einen „wunderbaren“ Abend. Ich kann nicht genug betonen, dass die Waza funktionieren muss, realistisch und effizient. Wenn sie das nicht tut, egal welche Farbe dein Gürtel hat, dann funktioniert sie nicht.
Als ich, wie schon gesagt, 1961 mit dem Aikido begann, trainierte ich noch im Judo. Ich kam mit meinem Schwarzgurt in Takahashi-Senseis Unterricht. Eines Tages kam Takahashi-Sensei in unser Haus zum Tee. Er befüllte seine Tasse, bis sie überlief und den Tisch überschwemmte. Ich starrte ihn entsetzt an, fragte mich was los sei, und er erklärte mir, dass dies eben geschehe, wenn eine Tasse voll ist: Es geht nichts mehr hinein. Zur nächsten Stunde kam ich mit einem weißen Gurt und er sagte: „Ich sehe, du hast deine Tasse geleert, nun können wir sie wieder füllen.“ Ich trage noch immer einen weißen Gurt, 55 Jahre später. 1
Ich möchte nun einige Dinge über die exotischen Titel im Aikido und den Kampfkünsten generell sagen. Es gibt Shihans, Dojo-Chos und was-weiss-ich noch im Aikido, als wenn das Gurt-Problem nicht genug wäre. Dann gibt es noch Sifus, Tuans, Sabomnim, Sokes, Gurus, Datus und Kyoshis. Diese exotischen, meist falsch benutzten Titel greifen im Westen um sich. Wer wäre nicht gerne ein Shihan oder Sifu statt einfach nur ein Lehrer! Diese schicken Titel kombiniert mit einem Schwarzgurt sind genug um das Selbstbewusstsein aufzumöbeln. Wer braucht schon Können? Bei Tag Hausmeister, des nachts Soke!
Nur wer eine Kunst gemeistert hat, sollte auch Meister genannt werden. Aber das klingt ja nicht wichtig genug, es soll exotischer sein. Ich meine ‚Sensei‘ ist absolut ausreichend, wenn es denn ein Fremdwort sein soll. Ein Sensei ist ein Lehrer. Um zu verstehen, dass Sensei auch ein Ehrentitel sein kann, muss man wissen welch hohes Ansehen Lehrer in Japan haben. Ein Sensei ist eine Wissensquelle und wird darum verehrt und respektiert. Es ist ein Titel, den man nicht leicht verdient. Sollte nicht Meister, Lehrer oder das japanische Äquivalent Sensei ausreichen? Grade zu vergleichen ist nichts anderes als eine Form des Wettkampfes, den es angeblich im Aikido gar nicht gibt.
Zum Schluss möchte ich zum Anfang zurückkehren. Respekt aufgrund eines Ranges einzufordern ist dumm. Respekt wird einem unaufgefordert zuteil oder er ist ohnehin unehrlich. Gute Technik und Weisheit sind kein Ergebnis einer Gurtfarbe, eines Hakama oder eines Zeugnisses. Eine funktionierende Technik und Fähigkeit sind ihr eigener Lohn. Abzeichen, Gurtfarben und andere Symbole offenbaren Unsicherheit und Zweifel über den eigenen Fortschritt. In einem echten Kampf wird dein Gegner nicht auf deine Abzeichen und deine Gurtfarbe schauen, er wird nach Öffnungen suchen. Wenn man einen Fehler macht, wird er ihn ausnutzen. Egal welchen Rang man hat, welche Abzeichen man trägt oder wo man Mitglied ist, man wird besiegt werden.
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder, New York, 19. August 2013