Aikido, Riai, Kiai, Aiki und Ri
von Walther von Krenner
Gemessen an modernen Standards der Kampfkünste und des Sports ist die Struktur eines Ryu ist ziemlich komplex und ausgeklügelt. Das Daito-Ryu, von welchem das Aikido abstammt, besaß drei Pfeiler: Yari (Speer) aus dem Hoso-in-Ryu, Ken (Schwert) aus dem Ono-ho-Itto-Ryu und die waffenlosen Techniken des Takeda-Ryu-Jujitsu. Letztere wurden in Kategorien eingeteilt: Ikajo, Nikajo, Sankajo, Yonkajo und Gokajo (Erste Technik, zweite Technik, etc.). Diese wiederum waren unterteilt in Nage-waza, Katame-waza und Ate.
Der Zusammenführung aller dieser Disziplinen in ein zusammenhängendes System wird Riai (Vollständigkeit) genannt. Es ist nicht einfach eine zufällige Sammlung von Tricks und Kniffen. Zwei Angriffe wie zum Beispiel Yokomen im Kendo und Koshi-Nage im Judo haben nichts gemeinsam. Ein wahres Ryu im alten Budo hatte Riai. Ein einzigartiger Aspekt des Riai ist, dass alle Technik sich im Prinzip gleichen. Jede Waza ist eine alleinstehende und abgeschlossene Bewegung, egal ob sie nun mit dem Schwert, dem Speer, dem Stab oder den bloßen Händen ausgeübt wird. Es ist auch egal, ob der Angreifer bewaffnet ist oder nicht – die Technik ist die gleiche. Wenn ein Meister wieder und wieder sagt, dass der Weg der Hand und der Weg des Schwertes das Gleiche sind, dann meint er oder sie nicht, dass sie gleich aussehen, sondern dass sie in allen Aspekten außer der äußeren Erscheinung gleich sind. Mit anderen Worten, die grundlegenden Prinzipien sind die gleichen. Yo no Kamae ist die Lehre dieser fundamentalen Prinzipien, auf denen alle Techniken aufbauen.
Im Aikido trainieren wir sieben Grundtechniken bis wir sie verstehen. Ich meine ein wahres und tiefes Verständnis, nicht ein intellektuelles. Kihon Suburi sind Schlagübungen mit dem Bokken um Kokyu zu entwickeln. Shikko dient zur Entwicklung von Bewegung und Hüftbewegung und Tai-Sabaki/Tai-no-henka wird zwischen einzelnen Waza geübt. Die nächsten beiden Stufen (Kiai/Aiki und Ji/Ri) befassen sich mit höheren Prinzipien der Kunst. Wenn Yo no Kamae und die Prinzipien der ersten Stufe nicht verstanden werden, gibt es weder Wachstum noch Fortschritt in die höheren Sphären.
Ein Aspekt der höheren Stufen ist das Studium von Kiai und Aiki. O-Sensei sagte: „Aiki ist die Kunst einen Gegner in einem Augenblick zu besiegen.“ Dem liegt ein tiefes Verständnis der fundamentalen Wahrheit der Prinzipien aller Dinge zu Grunde. Dies sollte nicht mit Magie oder einer mysteriösen Kraft verwechselt werden.
Um Aiki zu verstehen, muss man zuerst Kiai verstehen. Die Kanji (Schriftzeichen) beider Wörter sind die gleichen, nur in verschiedener Reihenfolge. Eine wörtliche Übersetzung dieser Kanji wäre „vereinter Geist“ und bedeutet die Vereinigung von Körper, Atem und Geist. Wenn alles in perfekter Harmonie ist, dann existiert Kiai. Ein Geräusch ist dabei nicht unbedingt nötig, doch häufig kaum zu vermeiden. Aikido ohne Kiai ist ein Anzeichen mangelnder Fertigkeit und Verständnis, denn ohne das Wissen um Kiai kann es kein Verständnis von Aiki geben. O-Senseis Kiai konnte man im ganzen Körper spüren. Einen richtigen Kiai kann man spüren und sofort erkennen, auch wenn man ihn nicht erklären kann. Wenn man ihn hört und fühlt, muss es einem kalt den Rücken herunterlaufen. Er beginnt normalerweise bevor die Technik Kime (Höhepunkt oder Fokus der Energie) erreicht, kann aber auch vorher enden. Man könnte sagen, dass es keinen Kime ohne Kiai gibt. Die Intensität des Kime sollte an die Technik angepasst sein. Wenn die Waza gut genug ist, dann wird Kiai das Resultat sein. Man darf Kiai nicht erzwingen oder vorschieben. Wenn man sich anstrengen muss, dann ist es genau so, als würde man eine Technik mit Gewalt erzwingen; es funktioniert einfach nicht. Kommen wir nun zu Aiki: Aiki ist die Überwältigung eines Angreifers durch eine konzentrierte Einheit von kraftvollem Geist, Aiki ist nicht – wie manche glauben – ein Überraschungseffekt oder Schock durch den plötzlichen Schrei. Aiki ist das Gegenteil von Kiai und es gibt subtile Unterschiede ihrer Anwendung. Wenn man eine Stufe unerschütterlichen Glaubens und Selbstvertrauens in die eigene Kunst erreicht hat erscheint Aiki; es gibt keine Zweifel mehr, kein Zurückfallen in alte Gewohnheiten der Gewalt. Man überwindet Leben und Tod, das Ego, den Sieg oder andere Anhaftungen. Solange man diese Stufe nicht erreicht hat, werden in einem Kampf um Leben und Tod (shin ken) die Säulen erschüttert und man wird „in einem Augenblick“ besiegt werden. Ki ist ein Gefühl oder eine Empfindung des Flusses und der „universellen Richtigkeit“, die sich in den Techniken widerspiegelt, keine mysteriöse unmessbare Kraft. Jedes Budo nutzt Aiki und Ki, doch Aikido ist in dieser Hinsicht besonders hoch entwickelt und gute Lehrer betonen beide in ihrem Unterricht. Es fällt einem Anfänger auch leichter zu verstehen, sein Ki fließen zu lassen, als eine Aiki-Situation herzustellen. Um eine Aiki-Situation herzustellen, muss man das Prinzip Irimi verstehen, welches mit Aiki und Kiai identisch ist.
Alles hat zwei Aspekte; Ji ist die Technik, Ri ist das Prinzip. Ein Mensch, der Ri versteht, hat keine Probleme mit den verschiedenen Techniken (Ji). Haben Sie schon einmal bemerkt, wie viel Wert wir in unserem Training auf das Studium legen? Wir sind Schüler, keine Mitglieder, Kunden, Patienten oder Anhänger. Die Betonung liegt auf dem Lernen; indem wir offen für die Lernerfahrung sind, lernen wir etwas über uns selbst und – wie Dogen anmerkt – letztlich etwas über „das große Ganze“. Niemand kann diese Prinzipien an Ihrer Stelle entdecken; Sie können sie nicht kaufen und man kann sie auch nicht vortäuschen; ein Mensch, der Aiki versteht, wird sie sofort durchschauen. Man muss es wirklich selbst erfahren! Das ist es, was Budo lehrt: Verantwortung für sich selbst und Weisheit. Ohne Shugyo (ernsthaftes Üben) und intensives Training wird man keine Fähigkeiten erlangen. Das gilt in allen Dingen. Dummheit kann durch Training verwandelt werden; man wird kein Meister ohne seine Dummheit zu transformieren. Wenn man eine Kunst gewissenhaft und ehrlich übt, dann wird man darin ein Meister werden. Alle Dinge beinhalten Ignoranz, doch wenn man sich im Shugyo übt, dann verschwindet sie. Prinzipien werden verstanden und Weisheit erscheint.
Wer den Weg studiert, studiert sich selbst; sich selbst zu studieren bedeutet das Selbst zu vergessen; sich selbst zu vergessen bedeutet in allen Dingen Erleuchtung zu finden und die fundamentalen Prinzipien des Universums zu verstehen.
Einige Hinweise und Beobachtungen über das Aikido und das Training:
Wer trainiert, um dadurch spirituelle Überlegenheit zu gewinnen, erliegt einer traurigen Täuschung.
Es ist tragisch, den Unterschied zwischen wahrem Budo und Wettkampfsport nicht zu verstehen und nur für die Kampftechniken zu trainieren.
Aikido ist ein Budo (Kriegskunst). Jede Kunst, die von sich behauptet Budo zu sein, aber keine nützlichen, effizienten und gefährlichen Techniken beinhaltet, ist Betrug. Kontrolle ist das Ergebnis von Fähigkeit und Erfahrung. Einen Krieger vorzuspielen ist gefährlich und führt nicht zur Erleuchtung.
Aikido-Politik ist eine dunkle Angelegenheit für Leute, die nicht aufstehen und für sich selbst sprechen können. Ihre Technik und ihre Fähigkeiten sind nicht was sie vorspiegeln; dies ist der dekadenteste, bemitleidenswerteste und traurigste Zustand in den ein Mensch geraten kann. Politik sollte es einfach nicht geben. Andere zum eigenen Vorteil zu manipulieren ist das genaue Gegenteil von Selbst-Korrektur und Verbesserung.
Die Hierarchie sollte einfach und schlicht sein. Ein Lehrer, ein Schüler, das ist in den meisten Fällen angemessen. Die Fortgeschrittenen (Sempai) sind die Vorbilder, sie erledigen zusätzliche Aufgaben und helfen den Anfängern (Kohai) beim Lernen. Sie dürfen ihre Position nicht ausnutzen, um andere herumzuschubsen. Selbstbetrug ist gefährlich.
Die Ideale des Aikido sollten im Alltag praktiziert werden und es sollten Wege gefunden werden, um sie anzuwenden. Wenn man viel über Ki, Energie, den Schutz von Leben und die Veränderung der Welt nachdenkt, aber nichts beiträgt, um sie zu verbessern, dann ist man ein Narr und Heuchler. Wenn man glaubt, dass man etwas verstanden hat und diese Dinge anwenden will, doch tatsächlich sinnlose, lächerliche und nutzlose Dinge tut, dann ist man gefährlich.
Fragen Sie sich selbst: Warum trainieren Sie? Was möchten Sie mit Ihren Fähigkeiten und Ihrem gewonnenen Verständnis tun? Sie sollten Gelegenheiten schaffen, um anderen zu helfen und zu dienen, auf eine schlichte, größtenteils unbemerkte und selbstlose Weise. Schüler, die nicht aufgeben und hart trainieren, verändern tatsächlich ihr Leben und das Leben, derer, die um sie sind. Sie sind friedliche Krieger, freie und offene Bürger dieser Welt. Sie verbessern ihre Fähigkeiten und verfolgen Karrieren, in denen sie die Gesellschaft befruchten und beschützen, wie verdorben sie auch ist. Dies sollten Menschen mit Integrität sein. Menschen mit der Qualität einer guten Teeschale: Shibui.
O-Senseis Traum von einer besseren Welt wird nicht einfach deswegen in Erfüllung gehen, weil Sie einige Male im Monat in Ihrem Dojo auftauchen, wenn Ihnen gerade danach ist. Das Geheimnis des Aikido ist ein Wort mit sechs Buchstaben: A-R-B-E-I-T.
Ohne herausragende Fähigkeiten und Verständnis des himmlischen Prinzips, das den Techniken zugrunde liegt, ist man ein Schüler. Falls Sie sich vor Ihrem Leben fürchten, dann stellen Sie sich ihm, ändern Sie es und seien Sie ehrlich zu sich selbst. Trainieren Sie hart, korrekt und aufrichtig, um die Aikido-Fantasiewelt der egozentrischen Komfortzone zu verlassen und anzufangen der Menschheit zu dienen. Sie können es schaffen! Es sei denn Sie geben auf und fallen in das Durcheinander von Maya zurück. Die Aiki-Haltung und dessen bedingungsloses Erweckungspotential werden langsam unsere Welt durchdringen und ihr Zauber verändert uns. Es gibt kein Zurück. Jeder kann mitmachen, doch nicht jeder kann ein wahrer Lehrer werden. Trainieren Sie, gewinnen Sie eine realistischere Perspektive und leben Sie einfach ein Leben authentischer Integrität. Wachsen Sie dort, wo es nötig ist, beobachten Sie sich, hinterfragen Sie Ihre wahren Motive, und finden Sie heraus wie Sie sich ohne Stolz und zuviel Ego verbessern können.
Haben Sie keine hohen Erwartungen; seien Sie jeden Tag so gut sie können, einen Tag nach dem anderen. Seien Sie achtsam, betrachten Sie die Welt differenziert, reagieren Sie im Einklang und mit Stärke und Integrität. Wenn es zu einem großen Streit kommt, dann bedeutet das, das sich niemand um die vielen kleine Schlachten zuvor gekümmert hat, als man noch hätte eingreifen können. Die kleinen Schlachten sammeln sich an und bilden eine große, dunkle Wolke des Irrtums, welche in sinnlosem Wahnsinn explodieren wird. Selbstgefälligkeit und Vernachlässigung sind gefährlich. Die Taten stiller Helden und Wunder sind alltäglich, meistens ohne dass es jemand bemerkt.
Die Kraft, die richtige Wahl zu treffen und klug zu handeln, unterscheidet den Krieger vom Feigling. Es reicht aus, wenn jeder Mensch den Herausforderungen seines Lebens mit Ehrlichkeit, Mut, Entschlossenheit und Klarheit entgegentritt.
Die innere Stimme, der wahre Meister, spricht eine deutliche Sprache. Jeder kennt den Unterschied zwischen richtig und falsch, integer und eigennützig; wer diese innere Stimme nicht besitzt, ist kein ganzer Mensch.
Das Leben ist kein Wettkampf, es ist eine Gemeinschaftsanstrengung. Es gibt keine Generalprobe, dieses Leben ist ES. Wenn man dies begreift, kann der Rest des Lebens der Auftritt sein.
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder, New York, 2012-12-14