Über die Wichtigkeit von Waza
von Walther von Krenner
Uyeshiba Morihei sagte: „Es steckt eine tiefere Bedeutung in den Techniken, überwinde das Konzept von Subjekt und Objekt, vereine beides, vergiss den Unterschied zwischen dir und dem anderen. Durchdringe den Körper des Angreifers mit den durchdringenden Augen des Tenchi.“
Aikido zu üben bedeutet einem Dojo anzugehören. Doch ein Dojo ist mehr als ein Unterrichtsraum, es steht für eine Abmachung zwischen einem Lehrer und seinem Schüler. Die Lehre wird von Angesicht zu Angesicht vermittelt. Es entsteht eine Beziehung wie zwischen Vater und Sohn. So sollte man das sehen. Zum Aikido gehört das Training des Körpers ebenso wie die beständige Korrektur des Geistes und das Erlernen von Disziplin. Dazu gehört ebenfalls das Erlernen des Umgangs mit einem Angriff. Wenn das Training lax ist, wird man keine guten Ergebnisse erzielen.
Eine anständige Grundhaltung ist essentiell.
Aikido wird auf verschiedenen Ebenen betrieben. Wenn man beginnt sind die Techniken das Wichtigste. Man kann bis zum Ende aller Tage über die Theorie und den Geist des Aikido philosophieren, doch all das zählt nicht, wenn die Philosophie sich nicht aus den Techniken speist und sich in akkuraten, effektiven, kreativen und schönen Techniken zeigt.
Zu viele Schüler und Lehrer verstehen dies nicht und faseln gedankenlos von Harmonie, Gewaltlosigkeit und anderen esoterischen Konzepten, die sie nicht in ihrem alltäglichen Leben anwenden können. An dieser Stelle möchte ich erläutern, was für mich die Wörter „Lehrer“ und „Übungsleiter“ bedeuten. Ein Lehrer ist eine Person, welche die Prinzipien und die höhere Bedeutung des Aikido verstanden hat und umsetzen kann. In seinem Leben und seiner Ethik manifestieren sich die höchsten Ideale des Budo. Er interessiert sich weder für Ruhm, Rang noch die Politik, die in Organisationen hiermit befasst ist. Anders gesagt: Er schwelgt nicht in seinem Ego oder künstlichem Status. Solche Menschen sind selten und sie sind es wert ihnen nachzueifern. Ein Übungsleiter ist jemand, der über ausreichend technisches Wissen und Erfahrung verfügt, um Anfänger bis zu seinem eigenen Niveau zu unterrichten. Unglücklicherweise gibt es zu viele Übungsleiter, die der Illusion erliegen, sie seien Lehrer im oben beschriebenen Sinne. Doch genug davon.
Die Grundtechniken Ude Osae, Kote Hineri, Kote Mawashi, Shiho Nage, Irimi Nage, Kaiten Nage und Kote Gaeshi (diese sieben Waza werden in unserem Dojo als die Grundtechniken unterrichtet) sind sehr einfach und gleichzeitig sehr ausgeklügelt und schwierig. Sie werden mit der Zeit nicht einfacher; doch durch endlose und wiederholte Übung beherrscht man sie besser – dies ist der Grund warum wir Aikido auf genau diese Weise trainieren. Aber dieses beständige Einüben sorgt auch für größere Vielfalt und dadurch wird es schwieriger zwischen Richtigem und Falschem zu unterscheiden. Daher ist es immer interessant sich anzuschauen, wie die höheren Meister und Shihan diese Techniken ausführen.
Man wird – manchmal begleitet von Irritation – feststellen, dass sie verschieden ausgeführt werden. Die Einsicht, dass die gleiche Technik auf verschiedene Weisen gezeigt werden kann, ist wohl eines der Ergebnisse langjährigen Trainings.
Alle diese verschiedenen Fassungen sind natürlich richtig (das heißt sie funktionieren, sind realistisch und effizient). Dies veranlasste O-Sensei Uyeshiba Morihei zu behaupten, Aikido habe Tausende von Techniken.
Auch „Waza sollte auf formloser Energie gründen“ und „in meinem Aikido gibt es keine festgelegten Formen“ sind Aussagen mit denen er sich darauf bezog.
Eine andere Ebene des Aikido-Trainings ist die praktische Erforschung der eigenen Disziplin, der persönlichen Prinzipien und der Selbstbetrachtung im Umgang mit anderen.
Diese persönliche Dimension ist ein wesentlicher Bestandteil des Aikido, ob nun in der Beziehung zum eigenen Lehrer oder zu den anderen Mitgliedern des Dojos.
Eine Aikido-Karriere beginnt normalerweise, indem der Schüler seinen Lehrer und die fortgeschrittenen Schüler seines Dojos imitiert.
Die Techniken genau so ausführen zu können, dass der Sensei zufrieden ist, ist ein niemals endender Prozess oder zumindest dauert es viele, viele Jahre. Doch je weiter man versucht in diese Imitation der Technik des Lehrers einzudringen, desto mehr dämmert einem die Erkenntnis, dass „Imitation“ keine geeignete Beschreibung dessen ist, was vor sich geht.
Das Wort Imitation hat den Beigeschmack des Nichtkreativen. Selbst wenn die Nachahmung der Technik des Lehrer gewissenhaft erfolgt, kann sie doch nur von begrenztem Wert sein, denn die Technik des Lehrers, die Technik des so genannten Nachahmers und auch deren Beziehung zu einander unterliegt einem ständigen Wandel.
Nachahmung ist natürlich ein essentielles Lehrmittel, insbesondere für die Aneignung physischer und mentaler Disziplin. Doch es bedarf Jahren andauernder Übung bis man überhaupt beginnt zu verstehen, was man überhaupt tut, wenn man Aikido praktiziert. Und selbst dann ist es keinesfalls sicher, dass man dieses Erkennen vermitteln oder auch nur in Worte fassen kann.
Aikido ist eine kreative Beziehung zwischen Menschen.
Es wäre am Besten wenn man einen Lehrer auswählt und dann hauptsächlich bei ihm lernt, statt von Lehrer zu Lehrer zu rennen und zu hoffen, man werde woanders etwas Anderes oder Besseres lernen. Fast alle der älteren Shihan sind stolz darauf, dass sie genau von einem Lehrer ausgebildet wurden, nämlich O-Sensei Uyeshiba Morihei. Sie sind nicht von einem Seminar zum nächsten gewandert.
Jede von einem Individuum mit außergewöhnlicher physischer und spiritueller Begabung – wie O-Sensei – ins Leben gerufene Bewegung (im weiteren Sinne) muss sich mit dem Problem auseinandersetzen, wie diese physische und spirituelle Hinterlassenschaft in einem Ryu bewahrt werden kann. Ist es möglich, dass die jüngeren Schüler, die niemals vom Gründer unterrichtet wurden, durch Vermittlung seiner Schüler dennoch Kontakt mit seinem Charisma aufnehmen können? Können diese Schüler ein weiteres Glied in einer Kette sein, die Aikido an die nächste Generation weiterreicht, ohne dass dessen Wahrheit und Geist verloren gehen?
Aikido ist nicht die erste Bewegung, die dieses Problem lösen muss. Wir müssen nur verschiedene Religionen betrachten und wie weit diese sich von den Lehren ihrer Gründer entfernt haben. Aikido leidet außerdem unter organisatorischen Schwierigkeiten, während Japan mit Problemen der Internationalisierung kämpft.
Die Parallelen sind zu offensichtlich um ignoriert zu werden. Es wird interessant sein zu sehen, wie viel „Japanischkeit“ und wie viel von O-Senseis Aikido-Lehren erhalten bleibt, während sich das Aikido an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts und des Westens anpasst.
Die Lehrer müssen ihr Eigeninteresse überwinden und das Kihon Waza üben, welches ihnen O-Sensei gezeigt hat.
Der technische Ursprung des Aikido liegt im Daito-Ryu. Es ist deine Aufgabe die Techniken effektiv und schön auszuführen. Du musst die Wurzeln verstehen, denn sonst wird dein Aikido wie eine dieser Plastik- oder Seidenblumen sein, die es heutzutage gibt. Sie haben keine Wurzeln, sie sind tot, reine Imitate.
In meinen Aufzeichnungen habe ich ein Zitat von O-Sensei Uyeshiba Morihei gefunden. Darin sagt er: „Ich werde solange ich lebe daran arbeiten das wahre Aikido zum Nutzen der ganzen Welt zu erschaffen. Es gibt kein von mir getrenntes Aikido.“ (Dies sollte wohl besser als „es gibt kein Aikido, welches von meinem Aikido getrennt ist“ übersetzt werden.)
Wird dieses Aikido auch in einer Welt des Streits und des Profitstrebens überleben und blühen? Das hängt von dir ab, von der nächsten Generation der Yudansha, während die älteren Sensei die Verantwortung für die Lehre an dich weiterreichen.
Walther G. von Krenner
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder, New York, 2012-03-01