Irimi
von Walther von Krenner
Kürzlich las ich in einem Forum die oft verwendete Phrase „verlasse die Angriffslinie und tritt ein”. Diese Formulierung wird dem Konzept des Irimi nicht nur nicht gerecht (ich gebe zu sie selbst benutzt zu haben), sie kann zu einem falschen Verständnis von Aikido-Technik führen. Dieser Fehler ist nicht akademisch, sondern drückt sich physikalisch aus, kann sogar die Wurzel technischer Mängel sein, die im Aikido heute angeblich weit verbreitet sind.
Die meisten Leute handeln „um die Linie zu verlassen”, nur reaktiv. Wir treten zur Seite, weichen dem Angriff aus, usw. Irimi sei nun ein Gegenangriff aus einem anderen Winkel. Kampfkunst als praktische Geometrie sozusagen.
Auf Japanisch bezeichnet „Go no sen“ reaktive Aktionen, die eine Antwort auf die Initiative eines anderen sind, doch auch dies ist nicht richtig.
Go-no-sen entzieht dem anderen die Initiative und beherrscht ihn. Stellen wir uns ein Gespräch vor, in dessen Verlauf einer der Sprecher laut wird. Inmitten seiner Tirade hebe ich die Hand und sage: „Kein Wort mehr. Seien Sie still.“ Dann schweigen sie. Ein Argument ist reaktiv, so wie in: „Mir gefällt Ihr Ton nicht! Sie irren sich,“ worauf man eine Antwort erwarten kann. Streitgespräche sind schon als verbales Sparring oder Wortgefecht bezeichnet worden. Go-no-sen ist dominant – ein Wort, ein Leben.
Dies kann im Kenjutsu beobachtet werden, beispielsweise im Itto-Ryu (welches enge Verbindungen zum Daito-Ryu besietzt). Wenn der Feind schlägt, dann schlage auch ich. Nicht entlang seines Schlages, sondern genau IN SEINEN SCHLAG. Zwei Objekte können nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Ich nehme diesen Platz in Anspruch, mit größerer Kraft, höherer Geschwindigkeit, besserem Timing oder stabilerem Stand. Der Feind ist offenbar abgelenkt, aber nicht niedergeschlagen. Die beiden können einfach nicht den gleichen Raum einnehmen. Oftmals gibt es nicht einmal Tai-Sabaki (Ausweichen, die Linie verlassen). Es kann es geben. Falls Sabaki eingesetzt wird, dann gleichzeitig, nicht auf den Schlag folgend. Sabaki ist keinesfalls ein fundamentaler Bestandteil des Irimi, sondern einfach eine Ausarbeitung.
Irimi belegt im Aikido den Raum auf die gleiche Weise. Dies ist, nebenbei bemerkt, auch die wahre Essenz des Atemi – nicht des Boxens – den Körper (besonders die Glieder) an die Orte zu bewegen, die der Gegner einnehmen möchte. Manchmal verläßt man die Linie, manchmal macht man einen Schritt. Wie ein Schwimmer, der in eine brechende Welle eintaucht. Wie Gozo Shioda es in einer seiner Lieblingstechniken zeigte, in der er, an beiden Handgelenken gegriffen, die Arme plötzlich abwärts schlagend eintritt und so seinen Angreifer emporschleudert. Wie Shoji Nishio, der durch eine kleine Drehung seines Handgelenks im Augenblick des Angriffs eine kleine aber unwiderstehliche Welle (Kuzushi) in seinen Partner schickt. Wie Kuwamori Yasunori einem seine Hüfte in den Weg stellen konnte, um seinen wunderbaren Koshi-Nage auszuführen. Wie Chuck Clark, der seine fleischige Faust an genau jene Stelle brachte, an der gleich der eigene Kopf sein würde. All dies sind Beispiele für Irimi, ganz ohne, dass die Linie verlassen worden wäre.
Die Aikido-Technik, welche wir so ausgiebig üben und welche so leicht die Kritiker findet, die empfehlen eine Prise Boxen oder Judo hinzuzugeben, ist nur ein AUSDRUCK von Aikido, nicht dessen Essenz. Wenn man es richtig macht, dann fällt einem die Technik zu, nachdem man die Aikido-Prinzipien angewendet hat.
Und tenkan? Ich hatte dies schon kurz in einem meiner vorherigen Texte behandelt. Doch soviel: Tenkan als Wegdrehen, auf eine Kreisbahn führen gehört nicht zum Aikido. Es ist eher auf der Matte ausgelebte Fantasie. Irimi geht Tenkan immer voraus. Wenn der Angreifer sehr fähig ist oder stark, so dass er den Raum, den ich mit Irimi besetze, zurückerobert, dann navigiere ich mit einer kreisförmigen Technik um seine Technik herum. Irimi hat ihm das Zentrum genommen – vielleicht nur kurz – doch er muss darauf reagieren. Die Kreisbewegung wird durch ihn initiiert. Tenkan ist als würde man einen Planet nehmen, ihm Anschub geben, und so eine Flugbahn, ob Ellipse, Spirale oder Tangente einer Kreisbewegung. Aikido-Ura-Techniken (Tenkan) übernehmen die Führung auf der Tangente einer nach innen oder aussen gerichteten Kreisbahn. Doch wenn Irimi nicht schon die Grundlage für den Sieg gelegt hätte, gäbe es gar keinen Tenkan. Man wäre einfach besiegt worden.
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder. 24.08.2010