Fortsetzung (weitere Gedanken eines alten Aikidoka)
von Walther von Krenner
Nachdem ich einige von O-Senseis Ideen erörtert habe, möchte ich auch einige Worte über mein Verständnis dieser Worte verlieren und desweiteren den heutigen Zustand des Aikido besprechen.
Es gibt heute zu viele Aikido-Organisationen und Untergruppen mit zu viel Missklang und zu viel Ego.
Als ich in Japan war und O-Sensei Morihei Ueshiba noch lebte und unterrichtete, gab es kaum Konflikte innerhalb des Aikido. Abgesehen von Shioda-Senseis Yoshinkan und Tomiki-Senseis Stil gab es keine Splittergruppen oder Unzufriedenheit.
Aikido war Eins und O-Sensei Ueshiba Morihei war Aikido.
Es wurde natürlich auf den höheren Ebenen auch Politik gemacht und dabei gab es auch Streit, das liegt zu einem gewissen Teil in der menschlichen Natur und ist von menschlichen Unternehmungen nicht hinfortzudenken, doch niemals erreichten diese die Matte und beeinträchtigten niemals unser Training.
Wir waren Schüler der Kampfkunst, wir waren dort um zu lernen und nichts anderes.
Heutzutage erlaubt sich jeder Anfänger schon frühzeitig ein Urteil über andere Lehrer und Schulen.
Als O-Sensei starb und ich Japan in Richtung Hawaii verließ, begannen die Machtspiele und das Gerangel um die Spitzenposten.
Tohei-Sensei trennte sich vom Hombu. Er hatte gute Gründe dafür. (Tohei-Sensei war damals einer meiner Lehrer, 10. Dan und Hauptlehrer am Hombu-Dojo.)
Kisshomaru, Waka-Sensei, wurde während meines Aufenthaltes zum zweiten Doshu und alles hätte bleiben sollen wie es war. Doch dem war nicht so.
Viele der Sempai verließen das Hombu-Dojo und gingen nach Amerika oder Europa, um ihre eigenen Organisationen zu gründen. Einige dieser Organisationen blieben mit dem Hombu verbunden, andere nicht.
Als Konsequenz gibt es mittlerweile über fünfzig verschiedene Aikido-Organisationen.
Alle behaupten, Aikido erzeuge Harmonie, doch Aikido wird heute von Gruppen vertreten, die nicht harmonieren und sich jeweils für besser oder authentischer halten, als die anderen Gruppen. Doch wenn alle Köpfe abgeschlagen werden, ist dadurch niemand größer.
O-Sensei wird heute als ein Kultobjekt verehrt, besonders da nur noch wenige von uns ihn persönlich gekannt haben. Nur noch sehr wenige Anfänger versuchen überhaupt seine Worte zu begreifen und ihnen eine Bedeutung in ihrem Leben zu geben. Viele seiner Aussprüche sind zu intellektuellen Zitaten geworden, zu sinnlosen Sprichwörtern, ie zwar wiederholt, aber nicht verstanden werden.
Da es im Aikido keine Wettkämpfe gibt, so wie zum Beispiel im Judo, können allerlei Leute zurechtkommen. Auf einer politischen, nicht auf dem Budo basierenden Ebene gibt es jedoch erheblichen Wettbewerb, in der sich Personen, die gerne im Dunklen operieren, gerne bewegen.
Politiker können somit an die Spitze gelangen und Kontrolle übernehmen, ohne dass sich ihnen jemand in den Weg stellen könnte.
Obwohl es heute technisch sehr fähige Aikidoka gibt, so gibt es doch gleichzeitig eine ungewöhnlich große Anzahl an Leuten, die in einer anderen Kampfkunst nicht überlebt hätten.
Und damit beginnt das Paradoxon des Aikido.
Die hart trainierenden Schüler erreichen ein hohes technisches Niveau und beschäftigen sich dann mit den spirituellen und philosophischen Aspekten der Kunst.
Andere erreichen dieses Niveau nicht oder sind nicht bereit die erforderlichen Opfer zu bringen. Sie laufen umher und dozieren über Frieden, Harmonie und gewaltlose Konfliktlösung und dergleichen mehr, obwohl sie nichts davon verstehen und sich nicht das Recht erworben haben, darüber zu sprechen.
Der Weg der Gewaltlosigkeit und Pazifismus sind eine Wahl, die man nur aus einer Position der Stärke heraus treffen kann. Wenn man keine andere Wahl hat, dann ist man weder Pazifist, noch friedfertig.
Es darf sich nicht als Pazifist bezeichnen, wer einer Konfrontation ausweicht, weil er ohnehin nichts ausrichten kann. Wenn ich eine gewaltsame Auseinandersetzung gewinnen könnte, doch wähle mich nicht aggressiv zu verhalten, sondern eine friedliche Lösung zu finden, dann bin ich ein Pazifist, ein Mann des Friedens.
Wie viele Leute geben vor der Weg der Harmonie zu beschreiten, obwohl sie eigentlich keine Wahl haben?
Sind die Kampfkünste nicht deswegen attraktiv, weil man ein starker Krieger sein will (zumindest anfänglich)? Jemand, der für sich selbst sorgen kann? Jemand, dem ein Schläger nichts anhaben kann? Sollen nicht Kampfkunst-Demonstrationen belegen, dass die Vorführenden mit jedwedem Angriff und feindseligen Situationen umgehen können?
Man sollte die eigenen Motive hinterfragen, es ist nichts falsch daran, sich verwundbar zu fühlen oder zu versuchen stark zu sein. Aber man darf sich nicht selbst belügen und sich vormachen, man tue es für andere oder aus noblen Gründen. Wer dies tut, wird zu einem Kampfkunst-Schauspieler und verlässt den wahren Do.
Wer lange Zeit trainiert, wird vergessen, warum er ursprünglich begann und wird trainieren um des Trainings willen. Dieses Training ist von reiner und ehrlicher Schönheit, ein echter Teil deines Lebens, nichts sonst.
Wähle deine Lehrer nach diesem Standard. Der Lehrer mit den meisten Schülern oder den auffallendsten Schlagzeilen ist nicht zwingend der beste Lehrer. Die größten Lehrer in jedem Bereich haben immer den Ruhm und die damit verbundenen Tücken gescheut.
Ein guter Lehrer sollte die Qualitäten einer guten Teeschale (Chawan) aufweisen.
Japanisch besitzt einen eigenen Ausdruck für den bittersüßen Geschmack einer unreifen Kakifrucht. Dieser Geschmack, der Shibui genannt wird, hat eine Bedeutung, die über bloßen Geschmack hinausgeht. Shibui wird schon seit langem mit einem vertrauten Verständnis der natürlichen Essenz und der einfachen Schönheit assoziiert, die im Herzen aller klassischen japanischen Künste liegen.
Diejenigen unter uns, die aufrichtig trainieren, um über sich selbst hinauszuwachsen, Aikido nicht nur als eine physikalische Kampfkunst betrachten, sondern als ein Werkzeug zu tieferer Einsicht, müssen sich dieses Konzept aneignen, damit unser Verständnis wachsen kann und wir uns nicht von großspurigen und künstlichen Menschen oder Dingen beirren lassen.
Nutzen wir doch eine schöne Teeschale, um diese Qualität zu erklären. Die Hilfsmittel eines Cha-no-yu [der Teezeremonie] und insbesondere die Teeschale werden ausgewählt anhand ihres Maßes an Shibui welches ihnen innewohnt. Als die besten werden diejenigen angesehen, deren Beschaffenheit und Aussehen ein Gefühl von heiterer Gelassenheit befördern und behilflich sind sich von negativen äußeren Einflüssen zu befreien. Diese Ästhetik der Teeschale kann auf das Training übertragen werden. Genau diese Qualitäten und Elemente, die der Teeschale ihr Shibui verschaffen, suchen wir in unseren Lehrern und unserem eigenen Do unseres Trainings.
Diese Eigenschaften sind: Einfachheit, Selbstverständlichkeit, Bescheidenheit, Stille, Natürlichkeit, Normalität, Ungeschliffenheit, Stärke und Leere.
Perfektion eines Do kann ebenfalls nach diesen Begriffen bemessen werden. Man muss nur die großen Lehrer und Budoka der Vergangenheit studieren und wird diese Qualtitäten in deren Leben wiederfinden.
Sie waren für ihren einfachen aber guten Geschmack bekannt, mieden die Öffentlichkeit und bevorzugten die Einfachheit. Sie waren daran interessiert Bedeutung in sich selbst zu finden und erkannten das „So-sein“ aller Dinge in dieser Welt an.
Sie waren bekannt für ihre Bescheidenheit. Trotz dass sie anderen behilflich waren, ersuchten sie nie um Belohnung oder hohe Position. Sie bevorzugten Stille und Ruhe und fanden diese auch in einer Welt in der Gelassenheit schwierig zu finden ist. Sie neigen den einfachen Dingen zu, führen ein spontanes, nicht mechanisches Leben. Sie bewegen sich zufrieden und ungekünstelt in der Öffentlichkeit.
Manchmal sind sie grob, doch kultiviert und haben auch Fehler, wie eine Teeschale einen Sprung haben kann.
Sie sind von einer wundersamen Leere erfüllt, die sie die Welt mit einer Aufmerksamkeit aufnehmen läßt, die auf uns einladend wirkt.
Sie sind Krieger, denn sie haben sich selbst besiegt und können deshalb auf jede weitere Schlacht verzichten.
Einige Worte zum Konzept des Budo.
O-Sensei Ueshiba Morihei wiederholte wieder und wieder, dass Aikido zuallererst Budo sei.
Die Wörter Budo und Bujin enthalten verschiedene Bedeutungen.
Ich denke, wir sollten diese Wörter und ihre historische Bedeutung verstehen, um deren Konzepte in unser Training zu integrieren. Ich möchte mich ausdrücklich auf die ursprüngliche Bedeutung dieser Wörter beschränken, in den meisten Fällen werden die Konsequenzen sich nicht auf die heutige Zeit übertragen lassen, doch da wir immerhin eine Kampfkunst betreiben, wollen wir zumindest wissen wovon hier die Rede ist.
In unserer Sprache verbinden wir das Wort Martial mit dem Militär und Krieg. Wir verbinden es mit den Wörtern ‘Kriegsrecht’ und ‘Militärstaat’, das Wörterbuch definiert es als ‘das Militärische oder den Krieg betreffend’. Der Ursprung dieses Wortes liegt im Namen des römischen Gottes des Krieges Mars.
Der Kampfkünstler (martial artist) ist eine Person mit besonderen Fähigkeiten. Ein Künstler kann alles mögliche können, doch in jedem einzelnen Fall zeigt sich ein besonderes Talent.
In der japanischen Sprache heißen die überlieferten Kampfsysteme Bujitsu, Heiho oder Koryu.
Das Schriftzeichen Bu in diesen Wörtern besteht aus einer Person, die einen Speer abwehrt, also eindeutig während einer Kampfhandlung. Auch im Wort Bushi ist Bu enthalten, ein Wort, das auch Samurai gelesen werden kann. Jitsu oder Jutsu bedeutet wiederum ‘Fähigkeit’ oder ‘Kunst’.
Also ist ein Bushi (oder Kampfkünstler) ein Mensch des ‘Bu’, des Kampfes.
Die Künste, die auf ‘-do’ enden, wie Aikido, Judo, Kendo, Iaido werden nicht zu den Koryu gezählt. Die Endung ‘-do’ fügt der einfachen Expertise des Kriegers eine spirituelle Komponente, ein höheres Ideal hinzu, die über das Besiegen eines Gegners hinausgeht.
Doch man sollte nicht vergessen, dass die alten Koryu-Stile das gleiche spirituelle Ziel verfolgten, wie die moderneren Do-Künste.
Die Grenze zwischen den Künsten des Weges und den Koryu ist verschwommen, auch da die unterrichteten Techniken in vielen Fällen die gleichen sind.
Auch Budo ist ein -do und der Weg des Kriegers ist Bushido mit den gleichen Idealen wie die Weg-Künste.
Der Begründer des Aikido bezeichnete seine Kunst als Budo und ich glaube, er meinte damit zuvorderst eine effiziente Kampfkunst und auf höherem Niveau einen spirituellen Weg, nachdem der erstere Teil gemeistert wurde. Sein eigenes Leben und die Evolution des Aikido belegen dies.
Intellektuelles Verstehen reicht nicht aus, nur Shugyu, hartes und aufrichtiges Training lassen uns dieses Ziel erreichen.
Shugyo sollte als ein Weg betrachtet werden, um den Körper zu trainieren und den Geist zu entwickeln.
Wenn das Training nachlässig geführt wird, werden die Ergebnisse entmutigen. Die richtige Einstellung ist wesentlich. Trainiere hart um des Trainings willen, nicht um eines künstlichen Grundes willen und aller Kleinmut wird von dir abfallen. Deine Prioritäten werden die richtigen sein. Deine Kompetenz dein Leben zu führen wird sich verbessern und du wirst weniger Zeit mit Irrelevantem verbringen.
Ist das nicht besser als Fußball oder Baseball!?
Wir trainieren, wie wir leben.
Wir leben, wie wir trainieren.
Dies sind nicht zwei verschiedene Dinge. Sie sind eines.
Copyright © der deutschen Übersetzung: Stefan Schröder 2011-06-17